Die Interessenabwägung führt zu dem folgenden Ergebnis:
Deutsche Richter haben einen (angeblichen) Prozeßbetrug im Rahmen der ordre public-Prüfung nur dann zu berücksichtigen,
Diese Vorgaben gelten sowohl im Rahmen der EuGVVO als auch für EuGVÜ und ZPO. In allen Fällen trägt die angeblich prozeßbetrogene Partei die Beweislast für die Behauptung, betrogen worden zu sein und im Erststaat keine Möglichkeit gehabt zu haben, den Prozeßbetrug geltend zu machen.
Im Beispiel mit Herrn Schulze heißt das: Die deutschen Richter haben zu berücksichtigen, daß in Frankreich ein Rechtsbehelf namens »recours en révision« vorgesehen ist, mit dem erschlichene Urteile angegriffen werden können. Solange nicht feststeht, daß dieser französische Rechtsbehelf stärker beschränkt ist als das deutsche Institut der Wiederaufnahmeklage (und daß diese Beschränkung ursächlich dafür war, daß Herr Schulze sich in Frankreich nicht zur Wehr setzen konnte, obwohl er das in Deutschland gekonnt hätte), wird in Deutschland keine Prozeßbetrugskontrolle stattfinden. Deutsche Richter, die dieses Präklusionsmodell anwenden, werden sich also mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht für die von Herrn Schulze geschossenen »Beweisfotos« interessieren.
Die in der Dissertation gewonnenen Erkenntnisse zur zweitstaatlichen Prozeßbetrugskontrolle lassen sich auf andere Anerkennungskontrollen übertragen – insbesondere auf andere Fälle des verfahrensrechtlichen ordre public sowie auf die Prüfung des materiellrechtlichen ordre public.
»Verfahrensrechtlicher« und »materiellrechtlicher« ordre public sind nach der hier verwendeten Terminologie Unterformen des anerkennungsrechtlichen ordre public.
Der materiellrechtliche ordre public kommt zur Anwendung, wenn der Inhalt einer ausländischen Entscheidungen gegen Grundsätze des deutschen Rechts verstößt, z. B. wenn eine Partei zur Zahlung von Strafschadensersatz (»punitive damages«) verurteilt wird.
Der verfahrensrechtliche ordre public ist betroffen, wenn das ausländische Verfahren mit Grundprinzipien des deutschen Rechts unvereinbar war, etwa, weil einer Partei kein ausreichendes rechtliches Gehör gewährt wurde. Prozeßbetrug wird allgemein als Unterfall des verfahrensrechtlichen ordre public angesehen, auch wenn diese Einordnung begrifflich zweifelhaft ist.
Zu Nachweisen vgl. Randnummer 188 der Dissertation.
In all diesen Konstellationen muß der Richter im Zweitstaat berücksichtigen, inwieweit der (angeblich) verletzten Partei Abhilfemöglichkeiten im Erststaat zur Verfügung stehen bzw. standen.
Zwar wird hier in bezug auf die zweitstaatliche Prozeßbetrugskontrolle ein sehr restriktives Präklusionsmodell vertreten. Dennoch darf die Dissertation nicht als pauschales Plädoyer mißverstanden werden, im Zweitstaat sollten in jeder Hinsicht weniger Anerkennungskontrollen stattfinden als bisher.
Vielmehr mag es sogar notwendig sein, das Kontrollniveau im Zweitstaat zu erhöhen, um eine ausreichende Rechtsprechungsqualität im Erststaat sicherzustellen. Dabei werden sich allerdings nur solche Kontrollen widerspruchsfrei mit dem Verbot der révision au fond vereinbaren lassen, die das Problem einer geringen Rechtsprechungsqualität im Erststaat »grundsätzlich« angehen.
Auch wer alle Ausführungen bis hierher verständlich fand, mag sich die Frage stellen, warum die hier ermittelten Ergebnisse bisher nicht allgemein vertreten werden. Warum sprechen sich bisher nur relativ wenige Stimmen in Literatur und Rechtsprechung für Präklusionsmodelle vom Typ 6 aus? Warum gibt es so viele Präklusionsgegner?
Viele abweichende Stellungnahmen lassen sich so erklären:
Einige Autoren berücksichtigen nicht, daß der Vorwurf des Prozeßbetrugs nicht mit dem Nachweis eines Prozeßbetrugs gleichzusetzen ist und daß auch der Titelinhaber schutzwürdige Interessen hat. Dieser Denkfehler ist besonders bei den Präklusionsgegnern verbreitet.
Außerdem herrscht bisher vielerorts die Fehlvorstellung, daß das Verbot der révision au fond bei der Prüfung von Anerkennungshindernissen keinerlei Bedeutung hätte. Tatsächlich aber kann und muß das Verbot der révision au fond bei der Prüfung von Anerkennungshindernissen berücksichtigt werden, um Wertungswidersprüche zu vermeiden.
Schließlich ist die Vielzahl möglicher Präklusionsmodelle noch nicht in das allgemeine Bewußtsein gerückt. Sobald sich in Literatur und Rechtsprechung die Erkenntnis durchsetzt, daß die Wahl zwischen zahlreichen Möglichkeiten besteht, sind in Zukunft fundiertere Stellungnahmen zu erwarten.
Weiter zu »Debatte über die Abschaffung des ordre public-Vorbehaltes«.