Auf europäischer Ebene sind in letzter Zeit ein paar Verordnungen ergangen, die unter bestimmten Umständen eine ordre public-Kontrolle im Zweitstaat unmöglich machen.
Die seit Herbst 2005 geltende EuVTVO (Europäische Vollstreckungstitelverordnung) sieht vor, daß Entscheidungen über sog. »unbestrittene Forderungen« im Ursprungsstaat als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigt werden können. Eine so bestätigte Entscheidung wird dann in den anderen Mitgliedstaaten
Sobald ein Titelgläubiger gegen den Schuldner mit Hilfe eines Europäischen Vollstreckungstitels vorgeht, hat der Schuldner demnach keine Möglichkeit, im Zweitstaat eine ordre public-Kontrolle herbeizuführen.
Damit nicht genug: Letzlich ist auf europäischer Ebene geplant, das Verfahren der Vollstreckbarerklärung (»Exequaturverfahren«) insgesamt abzuschaffen – und damit auch die Möglichkeit einer ordre public-Kontrolle im Zweitstaat.
Bereits der erste Schritt auf dem Weg zur Abschaffung des Exequaturverfahrens – die EuVTVO – ist in der Literatur vielerorts auf vehemente Kritik gestoßen. So schreibt Peter Mankowski:
Ähnliche Kritik äußern u. a. Dagmar Coester-Waltjen, Haimo Schack und Astrid Stadler.
Außerdem wird dem Europäischen Vollstreckungstitel entgegengehalten, daß er eine erhebliche Einlassungslast für die beklagte Partei zur Folge habe, weil sich diese im Erststaat einlassen müsse.
Andere Stimmen hingegen begrüßen die EuVTVO als einen Schritt zu mehr Titelfreizügigkeit. So meint etwa Rainer Hüsstege, in der EuVTVO bedürfe es keines ordre public-Vorbehaltes, weil das
Zudem argumentieren Andreas Stein und Jan Kropholler, daß der ordre public-Vorbehalt nur in seltenen Fällen gebraucht werde und daß sich »[d]as Gesamtkonzept der EuVTVO [...] in der überwältigenden Mehrzahl der Anwendungsfälle bewähren« dürfte.
In dieser Debatte finden sich auf beiden Seiten falsche Argumente.
Zum einen scheinen viele Gegner des Europäischen Vollstreckungstitels zu verkennen, daß der ordre public-Vorbehalt mitnichten dazu eingesetzt werden darf, umfassende Prozeßbetrugskontrollen im Zweitstaat durchzuführen. Nach dem hier hergeleiteten restriktiven Präklusionsmodell kommt der Einwand des Prozeßbetrugs tatsächlich nur in sehr seltenen Fällen zum Tragen.
Auch der Hinweis auf die »erhebliche Einlassungslast«, die der Europäische Vollstreckungstitel für die beklagte Partei mit sich bringt, ist kein schlagkräftiges Gegenargument. Vielmehr hat sich im Rahmen der Interessenabwägung herausgestellt, daß jede Urteilskontrolle mit Einlassungszwang verbunden ist und daß es der Zuständigkeitsgerechtigkeit entspricht, wenn Verfahren im Erststaat wiederaufgerollt werden.
Andererseits werden auch zu Gunsten der EuVTVO Argumente vorgebracht, die einer näheren Prüfung nicht standhalten.
Schwer nachvollziehbar ist die pauschale Behauptung, durch die Beibehaltung des ordre public-Vorbehaltes würde der Schuldnerschutz überspannt und der Gläubigerschutz vernachlässigt: Vielmehr hat die interessengerechte, restriktive Anwendung des ordre public-Vorbehaltes definitionsgemäß keine Überspannung des Schuldnerschutzes zur Folge.
Wenig überzeugend ist auch der Hinweis darauf, daß der ordre public-Vorbehalt nur selten gebraucht werde. Astrid Stadler schreibt treffend:
Um beim Bild der Notbremse zu bleiben: In der Diskussion über die Beibehaltung oder die Abschaffung des ordre public-Vorbehaltes streiten zwei Lager, von denen das eine die »Notbremse des ordre public« exzessiv einsetzen möchte und das andere diese Notbremse komplett abschaffen will.
Beide Positionen sind unausgegoren. Einerseits hat sich am Beispiel des Prozeßbetrugseinwandes gezeigt, daß der ordre public-Vorbehalt vielerorts noch zu häufig zum Einsatz kommt. Andererseits würde es den durchschnittlichen Fahrgast wundern, wenn in Eisenbahnen die Notbremsen mit der beschwichtigenden Begründung ausgebaut würden, diese Notbremsen würden nur sehr selten gebraucht.
Die Lösung liegt in der Erkenntnis, daß es nicht nötig ist, sich zwischen zwei Übeln zu entscheiden. Wir müssen nicht
Vielmehr »reicht es aus« – und ist es vorzugswürdig –, den ordre public-Vorbehalt beizubehalten und interessengerecht anzuwenden. Genau dazu will die hier vorgestellte Dissertation einen Beitrag leisten.