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Teil 16

Erweiterter einstweiliger Rechtsschutz

Einleitung

Im Rahmen der Interessenabwägung kommt es darauf an, genau zu ermitteln, wieviel Rechtsschutz einer im Erststaat betrogenen Partei zukommt, wenn Prozeßbetrug nicht Anerkennungshindernis ist. In diesem Zusammenhang ist mir das allgemeine Prinzip des »erweiterten einstweiligen Rechtsschutzes« klargeworden, das im internationalen Zivilprozeßrecht, aber nicht nur dort, von Bedeutung ist.

Beschreibung des erweiterten einstweiligen Rechtsschutzes

Ein Beispiel

Nehmen wir an, eine Partei ist in den USA Opfer eines Prozeßbetrugs geworden, und der erschlichene Titel ist bereits in Deutschland für vollstreckbar erklärt worden. Die betroffene Partei prozessiert nun in den USA, um den erschlichenen Titel dort aus der Welt zu schaffen. Sobald dies geschehen ist, kann sie in Deutschland abgeleiteten Rechtsschutz geltend machen, indem sie gem. § 767 ZPO Vollstreckungsabwehrklage gegen das Exequatur erhebt. Außerdem kann sie bezüglich der Vollstreckungsabwehrklage gem. § 769 ZPO einstweiligen Rechtsschutz erwirken, d. h. sie kann beispielsweise eine Einstellung der Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung erreichen, obwohl über die Vollstreckungsabwehrklage in der Hauptsache noch nicht entschieden worden ist.

Die Vollstreckungsabwehrklage gem. § 767 ZPO entspricht dabei funktional dem Verfahren gem. § 27 AVAG, das wir im Beispiel mit Herrn Schulze kennengelernt haben. In dem Fall, daß der Erststaat zu den USA gehört, ist § 27 AVAG jedoch deshalb nicht anwendbar, weil das relevante Anerkennungsregime die ZPO und nicht die EuGVVO ist (vgl. § 1 AVAG).

Wie aber ist es um den Rechtsschutz der betrogenen Partei bestellt, bevor es zur Aufhebung der erschlichenen Entscheidung in den USA gekommen ist? Solange die erschlichene Entscheidung in den USA Bestand hat, kann in Deutschland nicht erfolgreich eine Vollstreckungsabwehrklage gem. § 767 ZPO erhoben werden, und auch die direkte Anwendung des § 769 ZPO scheidet aus. Andreas Nelle hat jedoch für eine solche Konstellation zu Recht die analoge Anwendung des § 769 ZPO gefordert. Deutsche Gerichte müssen für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes die Abschätzung zu Grunde legen, zu welchem Ergebnis die US-amerikanischen Gerichte kämen, falls diese über das Aufhebungsverfahren sofort entschieden.

Allgemeine Beschreibung

Erweiterter einstweiliger Rechtsschutz betrifft allgemein die Frage, wie einstweiliger Rechtsschutz in »mehrstufigen Verfahren« zu gewähren ist. Die Antwort lautet:

Nachgeschaltete Gerichte müssen bei der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abschätzen, zu welchem Ergebnis die vorgeschalteten Verfahren kämen, falls dort sofort entschieden würde.

Ausgangspunkt für die Begründung des »erweiterten einstweiligen Rechtsschutzes« ist die Feststellung, daß das Ziel jeglichen einstweiligen Rechtsschutzes darin besteht, die Gefahren auszugleichen, die aus der Zeitdimension des gerichtlichen Verfahrens resultieren.

Der erweiterte einstweilige Rechtsschutz paßt dieses Prinzip auf die Konstellation an, daß das gerichtliche Verfahren ausnahmsweise nicht nur vor einem Gericht stattfindet, sondern auf mehrere Gerichte verteilt ist (nämlich auf das vor- und das nachgeschaltete Gericht). Da das Modell des »erweiterten einstweiligen Rechtsschutzes« nicht mehr als ein Weiterdenken der allgemeinen Regeln über einstweiligen Rechtsschutz ist, läßt es sich als Analogie zu den Vorschriften über einstweiligen Rechtsschutz herleiten.

Ausführlich zum »erweiterten einstweiligen Rechtsschutz« vgl. § 4 der Dissertation.
Das Beispiel 2 in Randnummer 22 der Dissertation veranschaulicht, daß das Prinzip des erweiterten einstweiligen Rechtsschutzes nicht nur im internationalen Zivilprozeßrecht, sondern auch im »normalen« nationalen Zivilprozeßrecht eine Rolle spielt.

Weiter zu »Denkfehler bezüglich § 826 BGB«.

 
© 2008–2011 • Ekkehard Regen