In der Interessenabwägung war die Erkenntnis von entscheidender Bedeutung, daß vor einer Prozeßbetrugskontrolle nicht angenommen werden kann, daß der Vorwurf des Prozeßbetrugs tatsächlich zutreffe. Wir haben aber gesehen, daß es naheliegt, diese Erkenntnis zu mißachten und die Interessenlage lediglich aus der Perspektive einer Partei zu betrachten, die tatsächlich Opfer eines Prozeßbetrugs geworden ist.
Dieser Denkfehler ist nicht nur im internationalen Zivilprozeßrecht verbreitet, sondern ist auch die Hauptursache dafür, daß bis zum heutigen Tag das nationale Wiederaufnahmerecht gem. §§ 578 ff. ZPO in abenteuerlicher Weise umgangen wird.
In der ZPO ist in den §§ 578 ff. die »Wiederaufnahmeklage« geregelt. Mit der Wiederaufnahmeklage können in bestimmten Konstellationen rechtskräftige Entscheidungen angegriffen werden. Unter anderem steht die Wiederaufnahmeklage zur Verfügung, wenn eine Partei behauptet, Opfer eines Prozeßbetrugs geworden zu sein (vgl. § 580 Nr. 4 ZPO).
Dem ZPO-Gesetzgeber war offensichtlich bewußt, daß einerseits ein starkes Bedürfnis danach besteht, einer (möglicherweise) prozeßbetrogenen Partei zu helfen und ihr eine Urteilsüberprüfung möglich zu machen.
Andererseits hat der ZPO-Gesetzgeber auch gesehen, daß jede Überprüfungsmöglichkeit die Interessen des Titelinhabers beeinträchtigt und ihn ggf. dazu zwingt, sich noch lange Zeit nach Erlaß des Urteils gegen den Vorwurf des Prozeßbetruges zur Wehr zu setzen.
Aus diesem Grund hat der ZPO-Gesetzgeber eine Wiederaufnahmeklage wegen Prozeßbetrugs nur unter strengen Voraussetzungen zugelassen:
Ob diese strengen Voraussetzungen gerechtfertigt sind oder ob der vom Gesetzgeber vorgesehene Hürdenparcours zu streng ausgefallen ist, soll an dieser Stelle offen bleiben. Festzuhalten ist jedenfalls, daß der ZPO-Gesetzgeber eine Wiederaufnahmemöglichkeit in engen Schranken geregelt hat und dadurch gegenläufige Interessen zum Ausgleich gebracht hat. Er hat sowohl das Interesse einer angeblich betrogenen Partei als auch das Interesse des Titelinhabers berücksichtigt.
Dabei war dem Gesetzgeber klar, daß »vollkommene Gerechtigkeit« nicht erreicht werden kann. Eine Prozeßbetrugskontrolle kann zwar für materielle Gerechtigkeit sorgen, indem sie einen Prozeßbetrüger entlarvt – sie sorgt aber ggf. auch für prozessuale Ungerechtigkeit, indem sie den nur vermeintlichen Prozeßbetrüger dazu zwingt, sich gegen den Vorwurf des Prozeßbetrugs zur Wehr zu setzen. Zudem kann eine Prozeßbetrugskontrolle sogar für materielle Ungerechtigkeit sorgen, falls der Titelinhaber aufgrund Zeitablaufs in Beweisnot geraten ist und ein Gericht im Rahmen einer Prozeßbetrugskontrolle zu Unrecht annimmt, eine Entscheidung sei erschlichen worden.
Die gesetzliche Regelung in den §§ 578 ff. ZPO ist ein Versuch, zwischen den Zielen materieller und prozessualer Gerechtigkeit einen angemessenen Ausgleich zu schaffen.
Die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahmeklage gem. §§ 578 ZPO sind immer wieder als unerträglich streng kritisiert worden. So schreibt Beate Grün, mit der in der ZPO geregelten Wiederaufnahmeklage ließen sich
Besonders drastisch formuliert Wolfgang Bernhardt, man dürfe nicht »schweigend zusehen«,
Ähnliche Ansätze finden sich u. a. bei Dieter Leipold, Michael Stürner und Gerhard Wagner.
Um die »Unzulänglichkeit« des Wiederaufnahmerechts gem. §§ 578 ff. ZPO zu kompensieren, berufen sich die Rechtsprechung und weite Teile der Literatur auf § 826 BGB, der eine Schadensersatzpflicht bei »sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung» anordnet: Nach dieser Vorschrift, so wird behauptet, könne eine betrogene Partei vom Prozeßbetrüger Unterlassung der Zwangsvollstreckung, Schadensersatz in Geld und Herausgabe des erschlichenen Titels verlangen – und dies soll insbesondere auch dann gelten, wenn das erschlichene Urteil bereits rechtskräftig ist und die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahmeklage nicht vorliegen.
Setzt man § 826 BGB in dieser Weise ein, wird damit ein zusätzliches Institut der Rechtskraftdurchbrechung geschaffen, hinter dem nach einer berühmten Formulierung des BGH die Vorstellung steht, daß
Die Begründungen für die »Notwendigkeit« einer Rechtskraftdurchbrechung mit Hilfe des § 826 BGB sind verräterisch. Sie machen sich oftmals vollkommen die Perspektive der (angeblich) betrogenen Partei zu eigen, etwa, wenn Wolfgang Bernhardt gegen »asoziale Elemente« wettert und dabei vergißt, daß es Titelinhaber geben mag, die gar keinen Prozeßbetrug begangen haben und deren Interessen schutzwürdig sind.
Auch der BGH scheint anzunehmen, die Frage des Prozeßbetrugs sei schon vor der Prozeßbetrugskontrolle geklärt, wenn er von »offenbaren« Lügen spricht.
Ebenso ist es bezeichnend, wenn Beate Grün dem Wiederaufnahmerecht vorhält, daß es »keineswegs alle Fälle extremer Ungerechtigkeit« erfaßt – und dabei übersieht, daß ein Höchstmaß an materieller Gerechtigkeit (durch möglichst viele Prozeßbetrugskontrollen) ein Höchstmaß an prozessualer Ungerechtigkeit zur Folge hätte, weil berechtigte Titelinhaber über Gebühr belastet würden.
Der ZPO-Gesetzgeber hatte erkannt, daß es darauf ankommt, einen Ausgleich zwischen gegenläufigen Interessen zu schaffen. Diese Klugheit wird bis heute vielfach ignoriert. Immer wieder fallen Autoren auf die Fehlvorstellung herein, ein »Mehr« an Gerechtigkeit lasse sich ganz einfach dadurch erreichen, daß man (angeblich) betrogenen Parteien mehr Kontrollmöglichkeiten einräumt.
Zwar wird die »Notwendigkeit« einer Rechtskraftdurchbrechung gem. § 826 BGB fehlerhaft begründet, indem einseitig die Perspektive einer betrogenen Partei zu Grunde gelegt wird. Dennoch hat die Rechtsprechung bei der Ausgestaltung dieses Rechtsbehelfs Augenmaß gezeigt und anerkannt, daß es von Nachteil wäre, die Rechtskraft in zu großem Umfang in Frage zu stellen.
So hat sie Hürden entwickelt, die
Stellt man die von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen für eine Rechtskraftdurchbrechung gem. § 826 BGB den Schranken gegenüber, die der Gesetzgeber in den §§ 578 ff. ZPO für eine Wiederaufnahmeklage festgelegt hat, so läßt sich nicht objektiv feststellen, daß der eine oder der andere Hürdenparcours »besser« wäre.
Beide Systeme berücksichtigen (wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten) sowohl das Interesse einer möglicherweise betrogenen Partei als auch gegenläufige Interessen.
Beide Systeme haben den Anspruch, zwischen den Zielen materieller und prozessualer Gerechtigkeit einen angemessenen Ausgleich zu schaffen.
Dennoch sind die Systeme nicht gleichwertig.
In einem Rechtsstaat sind Anordnungen des Gesetzgebers verbindlich, vgl. Art. 20 Abs. 3 Halbsatz 2 der Verfassung:
Der Gesetzgeber hat in den §§ 578 ff. ZPO abschließend die Voraussetzungen für eine Rechtskraftdurchbrechung festgelegt. Folglich ist es unzulässig, wenn die Rechtsprechung diese gesetzgeberische Festlegung umgeht, indem sie neben der Wiederaufnahmeklage ein zusätzliches Instrument der Rechtskraftdurchbrechung entwickelt, das anderen Regeln folgt.
Die von der Rechtsprechung entwickelte Rechtskraftdurchbrechung gem. § 826 BGB ist auch nicht etwa im Laufe der Zeit zu »Gewohnheitsrecht« geworden, weil sie zu allen Zeiten in der Literatur auf Widerspruch gestoßen ist.
Es mag sich lohnen, de lege ferenda über eine Reformierung des Wiederaufnahmerechts nachzudenken und zu diskutieren, nach welchen Vorgaben die Ziele materieller und prozessualer Gerechtigkeit gegeneinander abgewogen werden sollten.
De lege lata jedoch ist festzuhalten, daß sich die Voraussetzungen für zulässige Rechtskraftdurchbrechung ausschließlich aus den §§ 578 ff. ZPO ergeben und daß die von der Rechtsprechung entwickelte Rechtskraftdurchbrechung gem. § 826 BGB unzulässig ist.