Wir nehmen im ersten Schritt der Interessenabwägung an, daß der Erststaat im Vergleich zum Zweitstaat Deutschland »identischen Hauptsacherechtsschutz« gewährt. Wir nehmen also an, daß eine betrogene Partei die Möglichkeit hat, sich im Erststaat gegen den erschlichen Titel so zur Wehr zu setzen, wie sie das entsprechend auch in Deutschland könnte, falls es hierzulande zu einem Prozeßbetrug gekommen wäre.
Hat ein im Erststaat eingelegter Rechtsbehelf Erfolg, so bestehen – darauf aufbauend – auch im Zweitstaat Deutschland Rechtsschutzmöglichkeiten, ohne daß sich die betrogene Partei in Deutschland auf das Anerkennungshindernis Prozeßbetrug berufen müßte. Rechtsschutz im Zweitstaat, der voraussetzt, daß eine Partei zunächst Rechtsschutz im Erststaat gesucht hat, wird im folgenden als »abgeleiteter Rechtsschutz« bezeichnet.
Was es mit diesem »abgeleiteten Rechtsschutz« auf sich hat, läßt sich wieder an dem Beispiel mit Herrn Schulze demonstrieren:
Das Beispiel mit Herrn Schulze macht deutlich, daß der abgeleitete Rechtsschutz im Zweitstaat in Verbindung mit den Rechtsschutzmöglichkeiten im Erststaat zumindest in bestimmten Konstellationen dazu führt, daß eine betrogene Partei aus Rechtsschutzgesichtspunkten nicht auf das Anerkennungshindernis Prozeßbetrug angewiesen ist.
Für eine umfassende Prüfung
Außerdem muß erörtert werden, was »das richtige Maß an Rechtsschutz« ist; dafür kommt es auf einen Vergleich zwischen Anerkennungs- und Rechtskraftinteressen an.
Die Details können hier aus Platzgründen nicht dargestellt werden. Im Ergebnis ist jedoch festzuhalten:
Als wir uns oben mit Gesichtspunkten zur Präklusionsfrage auseinandergesetzt haben, sind wir dem Argument begegnet, einer Partei, die »sich einem unfairen ausländischen Verfahren ausgesetzt sieht«, könne nicht zugemutet werden, weiter im Erststaat zu prozessieren.
Dieser Ansatz ist jedoch aus mehreren Gründen abzulehnen.
Selbst wenn es im Erststaat zu einem »Verfahrensfehler« gekommen sein sollte, könnte daraus
nicht auf die Unzumutbarkeit weiterer Prozeßführung im Erststaat geschlossen werden.
Verfahrensfehler kommen auch vor deutschen Gerichten vor, und in diesem Fall ist unumstritten, daß den betroffenen Parteien
dennoch zuzumuten ist, sich weiterhin vor deutschen Gerichten zur Wehr zu setzen.
Zweitens ist ein Prozeßbetrug kein »Verfahrensfehler« im engeren Sinn: Vielmehr kann es zu einem Prozeßbetrug auch dann kommen, wenn das Gericht fehlerfrei gearbeitet hat. (Prozeßbetrug ist nicht in erster Linie eine Fehlleistung des Gerichts, sondern der Partei, die betrügt.)
Vor allem aber setzt die zitierte Argumentation voraus, daß es im Erststaat tatsächlich zu einem Prozeßbetrug gekommen ist. Es wird also verkannt, daß vor einer Prozeßbetrugskontrolle nicht davon ausgegangen werden kann, daß der Vorwurf des Prozeßbetrugs zutrifft.
Jede Prozeßbetrugskontrolle ist mit Einlassungszwang verbunden:
Ist eine Prozeßbetrugskontrolle nur im Erststaat möglich (weil der Zweitstaat keine Kontrollmöglichkeit gewährt),
muß sich die angeblich betrogene Partei, ggf. gegen ihren Willen, im Erststaat einlassen.
Ist eine Prozeßbetrugskontrolle im Zweitstaat möglich (weil der Zweitstaat die Anerkennung bzw.
Vollstreckbarerklärung von der Frage abhängig macht, ob im Erststaat ein Prozeßbetrug stattgefunden hat),
muß sich der Titelinhaber, ggf. gegen seinen Willen, im Zweitstaat einlassen.
Vielmehr entspricht es grundsätzlich der »Zuständigkeitsgerechtigkeit«, wenn eine Prozeßbetrugskontrolle genau dort stattfindet, wo auch das Ausgangsverfahren stattgefunden hat.
Besonders eigenartig ist die Auffassung, die der BGH in seinen Entscheidungen von 1999 und 2004 vertritt: Nach dieser Rechtsprechung wird einer im Ausland beklagten Partei zwar grundsätzlich abverlangt, sich im Erststaat gegen einen angeblichen Prozeßbetrug zur Wehr zu setzen; dies soll aber ausnahmsweise dann nicht gelten, wenn der Beklagte auf jegliche Einlassung im Erststaat verzichtet hat.
Zu dieser Rechtsprechung, die der BGH nicht näher begründet, ist zweierlei zu sagen:
Möglicherweise stützt der BGH seine Ansicht auf eine Formulierung des § 328 Abs. 1 Nr. 2 ZPO (bzw. auf die parallelen Formulierungen in Art. 27 Nr. 2 EuGVÜ und Art. 34 Nr. 2 EuGVVO), wo die Rede ist von einem »Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat«. Aus dieser Passage läßt sich aber bei richtigem Verständnis nicht einmal für das in Nr. 2 geregelte Anerkennungshindernis ableiten, daß den Beklagten keine Obliegenheit treffe, sich im Erststaat einzulassen.
Zudem ist kein Grund ersichtlich, warum eine Partei dafür belohnt werden sollte, daß sie sich »totstellt« und auf eine Prozeßführung im Erststaat verzichtet.
Wir haben bereits festgestellt, daß bestimmte Gesichtspunkte allgemein für die Anerkennung ausländischer Entscheidungen sprechen, nämlich insbesondere
Diese Gesichtspunkte gebieten, die Anerkennung ausländischer Entscheidungen von möglichst wenig Kontrollen im Zweitstaat abhängig zu machen.
Unter der Annahme, daß der Erststaat »identischen Hauptsacherechtsschutz« bietet, führt die Abwägung der Interessen zu einem klaren Ergebnis:
Der Rechtsschutz für eine (angeblich) betrogene Partei ist bereits dadurch sichergestellt, daß sie im Erststaat prozessieren und im Zweitstaat »abgeleiteten Rechtsschutz« geltend machen kann.
Auch sonst haben sich keine schutzwürdigen Interessen gezeigt, die für eine Prozeßbetrugskontrolle im Zweitstaat sprächen. Insbesondere ist nicht anzunehmen, daß einer (angeblich) betrogenen Partei eine Einlassung im Erststaat unzumutbar wäre.
Unnötige Kontrollen im Zweitstaat verletzen Anerkennungsinteressen.