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Teil 12

Schritt 1:
Abwägung im Rahmen der Prämisse

Rechtsschutzinteresse

Wir nehmen im ersten Schritt der Interessenabwägung an, daß der Erststaat im Vergleich zum Zweitstaat Deutschland »identischen Hauptsacherechtsschutz« gewährt. Wir nehmen also an, daß eine betrogene Partei die Möglichkeit hat, sich im Erststaat gegen den erschlichen Titel so zur Wehr zu setzen, wie sie das entsprechend auch in Deutschland könnte, falls es hierzulande zu einem Prozeßbetrug gekommen wäre.

»Abgeleiteter Rechtsschutz«

Hat ein im Erststaat eingelegter Rechtsbehelf Erfolg, so bestehen – darauf aufbauend – auch im Zweitstaat Deutschland Rechtsschutzmöglichkeiten, ohne daß sich die betrogene Partei in Deutschland auf das Anerkennungshindernis Prozeßbetrug berufen müßte. Rechtsschutz im Zweitstaat, der voraussetzt, daß eine Partei zunächst Rechtsschutz im Erststaat gesucht hat, wird im folgenden als »abgeleiteter Rechtsschutz« bezeichnet.

Was es mit diesem »abgeleiteten Rechtsschutz« auf sich hat, läßt sich wieder an dem Beispiel mit Herrn Schulze demonstrieren:

Nehmen wir an, daß in Deutschland bereits eine Vollstreckbarerklärung ergangen ist. Herr Schulze hat aber seine Rechtsbehelfsmöglichkeiten in Frankreich genutzt, und es ist ihm so gelungen, das französische Schadensersatzurteil aus der Welt zu schaffen.

In dieser Konstellation kann Herr Schulze nun im Zweitstaat Deutschland eine Aufhebung der Vollstreckbarerklärung erreichen (gem. § 27 AVAG = Anerkennungs- und Vollstreckungsausführungsgesetz).
Herr Schulze kann sich demnach vor einer Zwangsvollstreckung in Deutschland schützen, ohne daß er insoweit auf das Anerkennungshindernis Prozeßbetrug angewiesen wäre.

Ausreichender abgeleiteter Rechtsschutz

Das Beispiel mit Herrn Schulze macht deutlich, daß der abgeleitete Rechtsschutz im Zweitstaat in Verbindung mit den Rechtsschutzmöglichkeiten im Erststaat zumindest in bestimmten Konstellationen dazu führt, daß eine betrogene Partei aus Rechtsschutzgesichtspunkten nicht auf das Anerkennungshindernis Prozeßbetrug angewiesen ist.

Für eine umfassende Prüfung

Außerdem muß erörtert werden, was »das richtige Maß an Rechtsschutz« ist; dafür kommt es auf einen Vergleich zwischen Anerkennungs- und Rechtskraftinteressen an.

Die Details können hier aus Platzgründen nicht dargestellt werden. Im Ergebnis ist jedoch festzuhalten:

Unter der Voraussetzung, daß der Erststaat »identischen Hauptsacherechtsschutz« gewährleistet, ergibt sich im Zweitstaat Deutschland das richtige Maß an Rechtsschutz bereits durch den »abgeleiteten Rechtsschutz«.

Ein Anerkennungshindernis Prozeßbetrug wird insoweit nicht benötigt und hätte vielmehr ggf. ein »Zuviel« an Rechtsschutz zur Folge.

Einlassungslast

»Unzumutbarkeit« der Einlassung im Erststaat

Als wir uns oben mit Gesichtspunkten zur Präklusionsfrage auseinandergesetzt haben, sind wir dem Argument begegnet, einer Partei, die »sich einem unfairen ausländischen Verfahren ausgesetzt sieht«, könne nicht zugemutet werden, weiter im Erststaat zu prozessieren.

Dieser Ansatz ist jedoch aus mehreren Gründen abzulehnen.

Ohne Einlassungszwang geht es nicht

Jede Prozeßbetrugskontrolle ist mit Einlassungszwang verbunden:

Es gibt keinen Grund, die Interessen des Titelinhabers zurückzustellen und um jeden Preis die angeblich betrogene Partei vor Einlassungszwang zu schützen.

Vielmehr entspricht es grundsätzlich der »Zuständigkeitsgerechtigkeit«, wenn eine Prozeßbetrugskontrolle genau dort stattfindet, wo auch das Ausgangsverfahren stattgefunden hat.

Zur Frage der »Zuständigkeitsgerechtigkeit« lassen sich zahlreiche Überlegungen anstellen, die hier aus Platzgründen nicht dargestellt werden. Vgl. dazu Randnummern 684–695 sowie § 22 der Dissertation.

BGH-Rechtsprechung von 1999 und 2004

Besonders eigenartig ist die Auffassung, die der BGH in seinen Entscheidungen von 1999 und 2004 vertritt: Nach dieser Rechtsprechung wird einer im Ausland beklagten Partei zwar grundsätzlich abverlangt, sich im Erststaat gegen einen angeblichen Prozeßbetrug zur Wehr zu setzen; dies soll aber ausnahmsweise dann nicht gelten, wenn der Beklagte auf jegliche Einlassung im Erststaat verzichtet hat.

Zu dieser Rechtsprechung, die der BGH nicht näher begründet, ist zweierlei zu sagen:

Anerkennungsinteressen

Wir haben bereits festgestellt, daß bestimmte Gesichtspunkte allgemein für die Anerkennung ausländischer Entscheidungen sprechen, nämlich insbesondere

Diese Gesichtspunkte gebieten, die Anerkennung ausländischer Entscheidungen von möglichst wenig Kontrollen im Zweitstaat abhängig zu machen.

Ergebnis der Abwägung im Rahmen der Prämisse

Unter der Annahme, daß der Erststaat »identischen Hauptsacherechtsschutz« bietet, führt die Abwägung der Interessen zu einem klaren Ergebnis:


Fazit:

Unter der Annahme, daß der Erststaat »identischen Hauptsacherechtsschutz« gewährleistet, wäre eine Prozeßbetrugskontrolle im Zweitstaat unnötig und schädlich.

Zur Interessenabwägung im Rahmen der Prämisse identischen Hauptsacherechtsschutzes vgl. ausführlich §§ 19–23 der Dissertation.

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© 2008–2011 • Ekkehard Regen