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Teil 13

Schritt 2:
Abwägung außerhalb der Prämisse

Verschiebungen der Interessenabwägung

Der erste Schritt der Interessenabwägung hat deshalb zu einem klaren Ergebnis geführt, weil wir zugrunde gelegt hatten, daß einer betrogenen Partei im Erststaat »identischer Hauptsacherechtsschutz« gewährt würde.

Daß in irgendwelchen zwei Staaten der Rechtsschutz genau gleichwertig wäre, ist jedoch nicht mehr als ein Denkmodell (die Kritik am »Vertrauensdogma« des EuGH ist schon oben erwähnt worden).

Es ist also vorstellbar, daß der Erststaat einer betrogenen Partei schlechte Rechtsschutzmöglichkeiten bietet – und in diesem Fall könnten wir nicht mehr ohne weiteres annehmen, daß der »abgeleitete« Rechtsschutz im Zweitstaat Deutschland ausreicht, um der betrogenen Partei das richtige Maß an Rechtsschutz zukommen zu lassen.

Sollten die Gerichte im Erststaat hingegen mehr Rechtsschutz bieten, als vor deutschen Gerichten verfügbar wäre, ändert das an der bisherigen Interessenabwägung nichts – denn in diesem Fall besteht »erst recht« kein Bedürfnis für ein Anerkennungshindernis Prozeßbetrug.

Ursachen für ein geringes Rechtsschutzniveau im Erststaat

Um die Gefahr eines »geringen Rechtsschutzniveaus« im Erststaat in der Interessenabwägung angemessen berücksichtigen zu können, lohnt es sich zu untersuchen, aus welchen Gründen es im Erststaat zu einem geringen Rechtsschutzniveau kommen kann.

  1. Denkbar ist zum einen, daß das Prozeßrecht des Erststaates keine oder eine im Vergleich zu deutschen Verhältnissen beschränkte Wiederaufnahmemöglichkeit vorsieht.

    • Beispielsweise ist die Prozeßbetrugskontrolle im Erststaat möglicherweise von einer gerichtlichen Ermessensentscheidung abhängig, und das zuständige Gericht im Erststaat entscheidet sich möglicherweise dafür, keine Prozeßbetrugskontrolle durchzuführen – während in Deutschland unter entsprechenden Umständen (ermessensunabhängig) eine Wiederaufnahmeklage hätte erhoben werden können.


  2. Denkbar ist andererseits, daß das geringe Rechtsschutzniveau im Erststaat auf Umständen beruht, die nicht spezifisch mit dem Recht der Prozeßbetrugskontrolle zusammenhängen:
    • So könnte man sich vorstellen, daß die Richter im Erststaat »weniger qualifiziert« sind, als es deutsche Richter wären, und daß sie deshalb Beweise schlechter würdigen und einen tatsächlich begangenen Prozeßbetrug nicht erkennen können.

    • Denkbar wäre auch, daß die erststaatlichen Richter einer betrogenen Partei nicht helfen wollen, weil sie »übelwollend« sind.

    • Schließlich ist vorstellbar, daß das allgemeine Prozeßrecht des Erststaates Beschränkungen aufweist, die den Nachweis eines Prozeßbetrugs unmöglich machen. Werden etwa im Erststaat bestimmte Beweismittel generell nicht zugelassen, so mag einer betrogenen Partei der Nachweis des Prozeßbetrugs im Erststaat unmöglich sein, obwohl sie bei Anwendung deutschen Prozeßrechts einen solchen Nachweis führen könnte.

Die Differenzierung zwischen diesen beiden Ursachen-Kategorien ist entscheidend, um Wertungswidersprüche mit dem Verbot der révision au fond zu vermeiden.

Das soll im folgenden demonstriert werden, indem wir uns exemplarisch mit dem Problem beschäftigen, daß die Gerichte im Erststaat möglicherweise »übelwollend« sind.

Gefahr von Wertungswidersprüchen mit dem Verbot der révision au fond

Voreingenommene Richter im Erststaat

Auch wenn der Begriff »übelwollend« für heutige Ohren etwas schräg klingt, ist der Sache nach wohl unumstritten, daß Richter manchmal voreingenommen sind. So schreibt Reinhold Geimer:

»Jeder staatliche Richter wird – aus seiner subjektiven Sicht mit Recht – für sich in Anspruch nehmen, daß er in der Lage sei, unparteiisch jeden Rechtsstreit zu entscheiden, ohne Rücksicht auf die ›Nahebeziehung‹ der einen oder der anderen Partei. Jedoch ist rechtssoziologisch nicht zu bestreiten, daß das Rechtsklima und gewisse Vorlieben sowie der im Gerichtsstaat herrschende Zeitgeist mit oder ohne ideologischem Unter- oder Überbau zu nationalen Egoismen und Voreingenommenheiten führen können.«
Weitere Nachweise in Randnummer 788 der Dissertation.

Sollten in dem Beispiel mit Herrn Schulze die französischen Richter voreingenommen sein (indem sie zu Ungunsten der deutschen Partei entscheiden), so läßt sich diese Voreingenommenheit möglicherweise ausgleichen, indem man Herrn Schulze die Möglichkeit gibt, auch in Deutschland eine Prozeßbetrugskontrolle durchzuführen. So hätte Herr Schulze mit hoher Wahrscheinlichkeit die Möglichkeit, wenigstens einmal vor einem Gericht zu stehen, das nicht zu seinen Ungunsten voreingenommen ist.

Wertungswidersprüche

Das Problem einer (möglichen) Voreingenommenheit französischer Richter gegenüber deutschen Parteien stellt sich indes nicht nur, wenn es um Prozeßbetrugskontrollen geht, die in Frankreich stattfinden. Bei jedem Verfahren, das eine deutsche und eine französische Partei in Frankreich führen, ist vorstellbar, daß französische Richter zu Ungunsten der deutschen Partei voreingenommen sind. Allgemein jedoch ist es – gemäß dem Verbot der révision au fond – unzulässig, im Zweitstaat zu berücksichtigen, daß die Richter im Erststaat möglicherweise voreingenommen sind.

Wie paßt es nun zusammen,

Die Antwort ist einfach: Das paßt nicht zusammen. Die Gefahr der Voreingenommenheit ist bei Prozeßbetrugskontrollen nicht höher als bei anderen Verfahren, und folglich können aus der möglichen Voreingenommenheit ausländischer Gerichte hier auch keine abweichenden Konsequenzen gezogen werden.

Vorgaben an zulässige Kontrollen im Zweitstaat

Will man Wertungswidersprüche mit dem Verbot der révision au fond vermeiden, gilt der folgende Grundsatz:

Ordre public-Kontrollen im Zweitstaat können nur insoweit mit geringer Rechtsprechungsqualität im Erststaat gerechtfertigt werden, wie das Problem durch die zweitstaatliche Kontrolle allgemein ausgeschlossen wird.

Nach diesem Maßstab ist es beispielsweise zulässig, im Zweitstaat zu prüfen, ob die erststaatlichen Gerichte rechtliches Gehör bei Verfahrenseinleitung gewährt haben: Insoweit wird eine bestimmte Quelle für geringe Rechtsprechungsqualität allgemein ausgeschlossen.

Auf das rechtliche Gehör bei Verfahrenseinleitung beziehen sich die Anerkennungshindernisse § 328 Abs. 1 Nr. 2 ZPO, Art. 27 Nr. 2 EuGVÜ und Art. 34 Nr. 2 EuGVVO.

Eine Prozeßbetrugskontrolle im Zweitstaat hingegen, die diffus mit der Möglichkeit geringer erststaatlicher Rechtsprechungsqualität gerechtfertigt wird, würde keine der Ursachen für diese geringe Rechtsprechungsqualität allgemein ausräumen. Es wäre deshalb nicht nachvollziehbar, warum die Gefahr geringer erststaatlicher Rechtsprechungsqualität allgemein hinnehmbar sein sollte, warum sie aber ausnahmsweise nicht hinnehmbar sein sollte, soweit es um Prozeßbetrugskontrollen geht.

Zum Wertungsmaßstab des Verbots der révision au fond vgl. ausführlich Randnummern 794 ff. in der Dissertation.

Zulässige Prozeßbetrugskontrollen im Zweitstaat

Der Wertungswiderspruch mit dem Verbot der révision au fond ergibt sich bei zweitstaatlichen Prozeßbetrugskontrollen insoweit nicht, wie die geringe Rechtsprechungsqualität im Erststaat gerade auf dem Umstand beruht, daß der Erststaat aus deutscher Sicht in zu geringem Maße die Möglichkeit zur Prozeßbetrugskontrolle bietet. Diese Ursache einer geringen erststaatlichen Rechtsprechungsqualität kann nämlich durch eine zweitstaatliche Prozeßbetrugskontrolle allgemein behoben werden.

Ergebnis des zweiten Schritts der Interessenabwägung

Berücksichtigt man, daß der Erststaat ggf. nicht »identischen Hauptsacherechtsschutz« gewährleistet, sondern daß der Rechtsschutz gegen erschlichene Entscheidungen im Erststaat möglicherweise geringer ist als in Deutschland, läßt sich nicht pauschal behaupten, im Zweitstaat Deutschland bedürfe es keiner Prozeßbetrugskontrolle in der Anerkennungsprüfung.

Um Wertungswidersprüche mit dem Verbot der révision au fond zu vermeiden, darf ein geringes Rechtsschutzniveau im Erststaat aber nur insoweit berücksichtigt werden, wie es auf dem Umstand beruht, daß das Prozeßbetrugskontrollrecht des Erststaates stärker beschränkt ist als das deutsche Prozeßbetrugskontrollrecht.


Die Überlegungen der Interessenabwägung sollen nun zu einem »Rezept« zusammengefaßt werden.

Weiter zu »Anwendung des geltenden internationalen Zivilprozeßrechts«.

 
© 2008–2011 • Ekkehard Regen