Der erste Schritt der Interessenabwägung hat deshalb zu einem klaren Ergebnis geführt, weil wir zugrunde gelegt hatten, daß einer betrogenen Partei im Erststaat »identischer Hauptsacherechtsschutz« gewährt würde.
Daß in irgendwelchen zwei Staaten der Rechtsschutz genau gleichwertig wäre, ist jedoch nicht mehr als ein Denkmodell (die Kritik am »Vertrauensdogma« des EuGH ist schon oben erwähnt worden).
Es ist also vorstellbar, daß der Erststaat einer betrogenen Partei schlechte Rechtsschutzmöglichkeiten bietet – und in diesem Fall könnten wir nicht mehr ohne weiteres annehmen, daß der »abgeleitete« Rechtsschutz im Zweitstaat Deutschland ausreicht, um der betrogenen Partei das richtige Maß an Rechtsschutz zukommen zu lassen.
Um die Gefahr eines »geringen Rechtsschutzniveaus« im Erststaat in der Interessenabwägung angemessen berücksichtigen zu können, lohnt es sich zu untersuchen, aus welchen Gründen es im Erststaat zu einem geringen Rechtsschutzniveau kommen kann.
So könnte man sich vorstellen, daß die Richter im Erststaat »weniger qualifiziert« sind, als es deutsche Richter wären, und daß sie deshalb Beweise schlechter würdigen und einen tatsächlich begangenen Prozeßbetrug nicht erkennen können.
Denkbar wäre auch, daß die erststaatlichen Richter einer betrogenen Partei nicht helfen wollen, weil sie »übelwollend« sind.
Die Differenzierung zwischen diesen beiden Ursachen-Kategorien ist entscheidend, um Wertungswidersprüche mit dem Verbot der révision au fond zu vermeiden.
Das soll im folgenden demonstriert werden, indem wir uns exemplarisch mit dem Problem beschäftigen, daß die Gerichte im Erststaat möglicherweise »übelwollend« sind.
Auch wenn der Begriff »übelwollend« für heutige Ohren etwas schräg klingt, ist der Sache nach wohl unumstritten, daß Richter manchmal voreingenommen sind. So schreibt Reinhold Geimer:
Sollten in dem Beispiel mit Herrn Schulze die französischen Richter voreingenommen sein (indem sie zu Ungunsten der deutschen Partei entscheiden), so läßt sich diese Voreingenommenheit möglicherweise ausgleichen, indem man Herrn Schulze die Möglichkeit gibt, auch in Deutschland eine Prozeßbetrugskontrolle durchzuführen. So hätte Herr Schulze mit hoher Wahrscheinlichkeit die Möglichkeit, wenigstens einmal vor einem Gericht zu stehen, das nicht zu seinen Ungunsten voreingenommen ist.
Das Problem einer (möglichen) Voreingenommenheit französischer Richter gegenüber deutschen Parteien stellt sich indes nicht nur, wenn es um Prozeßbetrugskontrollen geht, die in Frankreich stattfinden. Bei jedem Verfahren, das eine deutsche und eine französische Partei in Frankreich führen, ist vorstellbar, daß französische Richter zu Ungunsten der deutschen Partei voreingenommen sind. Allgemein jedoch ist es – gemäß dem Verbot der révision au fond – unzulässig, im Zweitstaat zu berücksichtigen, daß die Richter im Erststaat möglicherweise voreingenommen sind.
Wie paßt es nun zusammen,
Die Antwort ist einfach: Das paßt nicht zusammen. Die Gefahr der Voreingenommenheit ist bei Prozeßbetrugskontrollen nicht höher als bei anderen Verfahren, und folglich können aus der möglichen Voreingenommenheit ausländischer Gerichte hier auch keine abweichenden Konsequenzen gezogen werden.
Will man Wertungswidersprüche mit dem Verbot der révision au fond vermeiden, gilt der folgende Grundsatz:
Nach diesem Maßstab ist es beispielsweise zulässig, im Zweitstaat zu prüfen, ob die erststaatlichen Gerichte rechtliches Gehör bei Verfahrenseinleitung gewährt haben: Insoweit wird eine bestimmte Quelle für geringe Rechtsprechungsqualität allgemein ausgeschlossen.
Eine Prozeßbetrugskontrolle im Zweitstaat hingegen, die diffus mit der Möglichkeit geringer erststaatlicher Rechtsprechungsqualität gerechtfertigt wird, würde keine der Ursachen für diese geringe Rechtsprechungsqualität allgemein ausräumen. Es wäre deshalb nicht nachvollziehbar, warum die Gefahr geringer erststaatlicher Rechtsprechungsqualität allgemein hinnehmbar sein sollte, warum sie aber ausnahmsweise nicht hinnehmbar sein sollte, soweit es um Prozeßbetrugskontrollen geht.
Der Wertungswiderspruch mit dem Verbot der révision au fond ergibt sich bei zweitstaatlichen Prozeßbetrugskontrollen insoweit nicht, wie die geringe Rechtsprechungsqualität im Erststaat gerade auf dem Umstand beruht, daß der Erststaat aus deutscher Sicht in zu geringem Maße die Möglichkeit zur Prozeßbetrugskontrolle bietet. Diese Ursache einer geringen erststaatlichen Rechtsprechungsqualität kann nämlich durch eine zweitstaatliche Prozeßbetrugskontrolle allgemein behoben werden.
Berücksichtigt man, daß der Erststaat ggf. nicht »identischen Hauptsacherechtsschutz« gewährleistet, sondern daß der Rechtsschutz gegen erschlichene Entscheidungen im Erststaat möglicherweise geringer ist als in Deutschland, läßt sich nicht pauschal behaupten, im Zweitstaat Deutschland bedürfe es keiner Prozeßbetrugskontrolle in der Anerkennungsprüfung.
Um Wertungswidersprüche mit dem Verbot der révision au fond zu vermeiden, darf ein geringes Rechtsschutzniveau im Erststaat aber nur insoweit berücksichtigt werden, wie es auf dem Umstand beruht, daß das Prozeßbetrugskontrollrecht des Erststaates stärker beschränkt ist als das deutsche Prozeßbetrugskontrollrecht.
Die Überlegungen der Interessenabwägung sollen nun zu einem »Rezept« zusammengefaßt werden.
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