Der Staat, in dem eine Gerichtsentscheidung erlassen wurde, wird im folgenden als »Erststaat« bezeichnet.
Der Staat, in dem diese Entscheidung anerkannt bzw. vollstreckt werden soll, wird im folgenden als »Zweitstaat« bezeichnet.
In dem eben beschriebenen Beispiel mit Herrn Schulze ist also Frankreich der Erststaat und Deutschland der Zweitstaat.
Soll in Deutschland ein ausländisches Urteil anerkannt bzw. vollstreckt werden, müssen unterschiedliche Normen angewandt werden, je nachdem, aus welchem Staat das ausländische Urteil stammt bzw. wann es ergangen ist.
Die Anerkennung bzw. Vollstreckung von Urteilen, die in anderen europäischen Staaten ergangen sind, richtet sich hauptsächlich nach der schon erwähnten EuGVVO (Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung), die 2002 in Kraft getreten ist.
Vorläufer der EuGVVO war das EuGVÜ (Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen) von 1968. Es ist heute weitgehend durch die EuGVVO abgelöst, findet aber unter anderem noch auf Altfälle Anwendung.
Auch in der ZPO (Zivilprozeßordnung) finden sich Normen über die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung ausländischer Urteile (§§ 328 und 722 f. ZPO). Diese Normen kommen zur Anwendung, wenn EuGVVO und EuGVÜ keine vorrangigen Regelungen enthalten, z. B. wenn es um die Anerkennung US-amerikanischer oder in Asien ergangener Urteile geht.
Eine grundlegende Vorschrift, die sich sowohl in der EuGVVO und im EuGVÜ als auch im Anerkennungsrecht der ZPO findet, ist das Verbot der »révision au fond«: Die Anerkennung ausländischer Entscheidungen darf nicht von einer vollständigen Nachprüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht abhängig gemacht werden.
Bei näherem Hinsehen leuchten diese Regelungen ein: Würden ausländische Urteile nur unter der Voraussetzung anerkannt bzw. vollstreckt, daß deutsche Richter in derselben Sache genau dasselbe Urteil gefällt hätten — dann handelte es sich nur auf dem Papier um eine »Anerkennung« bzw. »Vollstreckung« der ausländischen Entscheidung: In Wahrheit würde das ausländische Verfahren im Zweitstaat Deutschland komplett wiederholt.
In engen Grenzen erlauben EuGVVO, EuGVÜ und ZPO allerdings, daß die Anerkennung bzw. Vollstreckbarerklärung von einer Nachprüfung der ausländischen Entscheidung abhängig gemacht wird: Sie zählen in Katalogen bestimmte Anerkennungshindernisse auf.
Eines dieser Anerkennungshindernisse ist ein Verstoß gegen den sogenannten »ordre public« des Anerkennungsstaates. Die Regelungen lauten:
Art. 34 Nr. 1 EuGVVO:
Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ:
§ 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO:
Wie man sieht, ist sowohl in der EuGVVO als auch im EuGVÜ und der ZPO jeweils ein ordre public-Vorbehalt enthalten, und die Klauseln stimmen dem Wortlaut nach grob überein. Allerdings läßt dieser Wortlaut viele Fragen offen.
Die Schwammigkeit und Unbestimmtheit der Generalklauseln ist in der Literatur oft angeprangert worden. Stellvertretend sei Christian Völker zitiert:
Wie die ordre public-Klauseln richtig anzuwenden sind, ergibt sich also nicht unmittelbar aus ihrem Wortlaut. Vielmehr ist es notwendig, die relevanten Interessen zu ermitteln und zwingende Maßstäbe für eine Abwägung zu finden.
Nur auf Grund einer solchen Abwägung kann beantwortet werden, ob und inwieweit sich eine Partei auf den ordre public-Vorbehalt berufen kann, die im Erststaat (angeblich) Opfer eines Prozeßbetrugs wurde.
Auf diesen Seiten geht es um den anerkennungsrechtlichen ordre public-Vorbehalt, der sich insbesondere in Art. 34 Nr. 1 EuGVVO, Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ und § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO findet.
Der anerkennungsrechtliche ordre public-Vorbehalt ist nicht mit dem kollisionsrechtlichen ordre public-Vorbehalt zu verwechseln, der insbesondere in Art. 6 Satz 1 EGBGB geregelt ist.
Der kollisionsrechtliche ordre public-Vorbehalt spielt eine Rolle, wenn ein deutscher Richter vom Kollisionsrecht aufgerufen ist, ausländisches Recht anzuwenden. Hier schreibt der kollisionsrechtliche ordre public-Vorbehalt ggf. vor, bestimmte ausländische Normen nicht anzuwenden, falls deren Anwendung »zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist« (Art. 6 Satz 1 EGBGB).
Der kollisionsrechtliche ordre public-Vorbehalt beschränkt demnach die Anwendung ausländischen Rechts. Der anerkennungsrechtliche ordre public-Vorbehalt hingegen spielt eine Rolle, wenn es um die Anerkennung bzw. Vollstreckbarerklärung ausländischer Entscheidungen geht.